Die Habsburgermonarchie im Prozess der Demokratisierung

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war der Kampf um politische Mitspracherechte noch lange nicht ausgefochten: In der österreichischen Reichshälfte war seit 1907 das Wahlrecht für alle männlichen Staatsbürger Realität geworden, während in Ungarn weiterhin nur vermögende Schichten über das Wahlrecht verfügten. Frauen blieben in beiden Reichshälften von jeglicher politischen Mitsprache ausgeschlossen.

Im Zensuswahlrecht, das für den Beginn des Parlamentarismus kennzeichnend war, spiegelten sich die eklatanten sozialen und ökonomischen Ungleichheiten der streng hierarchisierten Klassengesellschaft wider. Da die Teilhabe am politischen Geschehen an die Steuerleistung und den Bildungsgrad gekoppelt war, stellte der Parlamentarismus zunächst eine Angelegenheit der wirtschaftlichen und sozialen Eliten dar.

In der Habsburgermonarchie waren die sozialen Ungleichheiten in der politischen Mitsprache zusätzlich verschränkt mit der ethnischen Herkunft. Es bestand ein deutlicher Unterschied zwischen den dominanten Nationalitäten (v. a. Deutsche und Magyaren) und anderen, vom Entscheidungsprozess mehr oder weniger ausgeschlossenen Nationalitäten, die zumeist auch im ökonomischen Entwicklungsstand hinterherhinkten. Die verzerrte Repräsentation der ethnischen Gruppen fußte auch in der Wahlkreisorganisation: So benötigten die Deutschen für ein Mandat 37.000 Stimmen, während in den von Ruthenen dominierten Sprengeln 95.000 Stimmen notwendig waren.

Am stärksten fiel diese Ungleichheit in Transleithanien aus. Die Handlungsfähigkeit des Ungarischen Reichstags war nur durch die Unterdrückung der politischen Rechte der anderen Nationalitäten gewährleistet. Das Budapester Parlament blieb eine exklusive Versammlung der magyarischen Eliten, die das von der Steuerleistung abhängige Zensuswahlrecht bis zum Ende der Monarchie beibehielten und nur vermögenden Schichten eine politische Repräsentation einräumten. 1913 waren gerade einmal 7,7 % der Bevölkerung der ungarischen Reichshälfte wahlberechtigt. Die Masse der Kleinbürger, Bauern, Landarbeiter und des städtischen Proletariats blieb von der politischen Mitsprache ausgeschlossen. Angesichts des Aufbaus der ungarischen Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zur gebildeten und vermögenden Schicht gleichbedeutend mit dem Bekenntnis zum Magyarentum war, bedeutete dies, dass die nicht-magyarischen Sprachgruppen, unter denen sich nur sehr schwache ökonomische Eliten ausgebildet hatten, über keine ihrer Bevölkerungsstärke entsprechende parlamentarische Vertretung verfügten.

In Cisleithanien eröffneten Wahlrechtsreformen schrittweise breiteren Bevölkerungsschichten die Möglichkeit der Mitbestimmung, was das politische Spektrum stark veränderte. Der finale Schritt von der Eliten- zur Massenpolitik wurde 1906/07 durch die Einführung des allgemeinen, gleichen und freien Wahlrechts für Männer gesetzt. Die Hoffnung, dadurch das verkrustete politische System zu reformieren, ging jedoch nicht auf. Die Konfrontationsbereitschaft unter den politischen Lagern stieg angesichts sozialer wie nationaler Konflikte weiter an.

Das labile Parteiensystem war nicht nur durch weltanschauliche Gegensätze zersplittert, sondern zusätzlich auch durch nationale Antagonismen. Die Abgeordneten sahen sich in erster Linie als Vertreter ihrer Nation und weniger dem Gesamtstaat verpflichtet. Es existierte keine starke, die nationalen Gräben überbrückende Reichspartei, denn selbst die Sozialdemokratie, die sich am ehesten als supranationale Kraft sah, zerbrach schließlich ebenfalls an nationalen Differenzen. Die mangelnde Konsensfähigkeit führte dazu, dass sich das Parlament zumeist selbst lähmte.

Die Diskussion um das Frauenwahlrecht beschäftigte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die politische Öffentlichkeit der Habsburgermonarchie – wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß als zum Beispiel in Großbritannien. Diese Forderung wurde erst im Zuge der vollkommenen Umgestaltung der politischen Rahmenbedingungen nach 1918 in die Realität umgesetzt. 

Bibliografie 

Gogolák, Ludwig: Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen National- und Zentralstaates, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 2, 1207–1303

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Stourzh, Gerald: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 bis 1918, Wien 1985

Wandruszka, Adam (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band VII: Verfassung und Parlamentarismus. Teil 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit und zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der starke Staat und der Untertan: Obrigkeitsdenken und Klassengesellschaft

    Die Klassengesellschaft der Habsburgermonarchie war von strengen Hierarchien geprägt. Es herrschten enorme Unterschiede zwischen Arm und Reich. Angehörige verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen sowie Frauen generell standen in existenziellen sozialen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen.