Noch einmal Hauptstadt der Monarchie: Mehr Bevölkerung, mehr Aufgaben, mehr Bürokratie, weniger Ressourcen

Wien war während des Ersten Weltkrieges so groß wie nie zuvor und nie nachher. Es gab zwar während des Krieges keine Volkszählung, so dass sich nicht mit gesicherten Zahlen operieren lässt, aber zahlreiche Indizien weisen darauf hin, dass die Bevölkerungszahl auf mehr als 2,4 Millionen stieg.

Es gehört zu den Paradoxien des Krieges, dass Wien in seiner gesamten Geschichte just zu einem Zeitpunkt einen Einwohner-Höchststand erreichte, als sich hunderttausend Wiener weit weg von ihrer Heimatstadt an der Front befanden. Hotels und Pensionen waren in der Endphase des Krieges überbelegt. Die Chance, eine Wohnung anzumieten, war gleich null. Neuankömmlinge hatten größte Mühe, irgendwo einen Schlafplatz zu bekommen. Die Residenzstadt wurde in nie gekanntem Ausmaß noch einmal zum zentralen Knotenpunkt: Wien war Kasernenstadt für Soldaten aus der ganzen Monarchie geworden, in Wien war die zentrale Verwaltung aller Kriegsanstrengungen massiert. Wien verwandelte sich aber auch zur Lazarettstadt: Allein bis März 1915 kamen mehr als 260.000 Verletzte an. Hierher wollten die meisten Flüchtlinge, weil ihnen die Hauptstadt mehr Überlebenschancen bot. Nachdem im Spätherbst 1914 250.000 Vertriebene in Wien gelandet waren, stoppte die Regierung den Zuzug. Wien wurde zum Zentrum der Kriegswirtschaft und zog Arbeitskräfte aus der ganzen Monarchie an. All die genannten Personenströme ließen die Bevölkerungszahl auf über 2,4 Millionen klettern.

Wie für die meisten Wirtschafts-und Gewerbebetriebe bedeutete die Mobilisierung im Juli 1914 auch eine Zäsur für die Wiener Gemeindeverwaltung und die städtischen Betriebe. 1914 belief sich der Personalstand in Gemeinde und städtischen Unternehmungen auf rund 43.000 Beamte und Angestellte. Allein von den Straßenbahnern wurde die Hälfte des Personals, nämlich 6.000 Männer, eingezogen. Es herrschte akuter Personalmangel. Aushilfskräfte sollten die Lücken schließen. Ab 1915 wurden vor allem Frauen als Ersatzarbeitskräfte eingestellt, die nur vorübergehend die Arbeitsplätze der an die Front einberufenen Männer übernehmen sollten. Die populärste Figur des „Kriegsfrauendienstes“ wurde die städtische Straßenbahnschaffnerin. Auch pensionierte Beamte wurden wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgerufen. Das Lehrpersonal an den Schulen musste neben dem Unterricht auch andere Aufgaben übernehmen, so die aufwändige Tätigkeit der Ausgabe der Rationierungskarten.

Die Planung, Ausgabe und Kontrolle der Brot-, Kartoffel- und diversen anderen Karten war aber nur eine der vielen neuen Aufgaben, die der Stadtverwaltung zuwuchs. In vielen weiteren Bereichen musste die Stadt dafür sorgen, dass mehr Kräfte zur Verfügung standen, um die brennenden Probleme anzugehen und die akuten Anforderungen einigermaßen zu bewältigen. Die quantitativen Kennzahlen des Verwaltungsberichtes über die Kriegszeit verdeutlichen, dass allein die administrative Bewältigung der monetären und praktischen Fürsorge die Beamtenschaft vor eine extreme Belastung stellte. Eine Fülle neuer Behörden wurde geschaffen: das Städtische Jugendamt, das Invalidenamt, das Wohnungsamt, das städtische Gesundheitsamt, das Arbeiterfürsorgeamt, die Milchversorgungsstelle, die Abteilung für Ausspeiseaktionen, das Kriegsküchenkommissariat, das Hilfsbüro der Privatangelegenheiten der Einberufenen, die Zentralstelle der Fürsorge für Kriegsflüchtlinge, die Städtische Zentrale für Tuberkulosefürsorge u.a.m. Das neue Amtshaus in der Felderstraße vis-à-vis dem Rathaus war schon gefüllt, als auf den Gängen noch keine Glühbirne brannte.

Die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich in vielerlei Hinsicht. Nicht nur fraß die Teuerung einen erheblichen Teil der Gehälter auf. Die Beamtenschaft musste zusammenrücken, die Büroräume waren kaum geheizt, Licht wurde gespart, Kleidung und Schuhe konnten nicht ersetzt werden. Im September 1918 legte ein zweitägiger Streik der Straßenbahner, die höhere Löhne und bessere Versorgung forderten, das gesamte Verkehrsleben in der Stadt lahm. Immerhin schaffte in der täglichen Versorgung die neu eingerichtete Kriegsküche im Amtshaus Felderstraße einigermaßen Abhilfe.

Bibliografie 

Beiträge von Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas/Mertens, Christian/Ma-Kircher, Klaralinda/Stekl, Hannes in: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

Personen, Objekte & Ereignisse

  • Objekt

    Flucht und Deportation

    Millionen von Menschen flohen während des Krieges vor den Kampfhandlungen und den marodierenden Soldaten. Besonders dramatisch erwies sich die Situation in den ethnisch heterogen zusammengesetzten Gebieten der Ostfront. Neben den Invasoren gingen hier auch die Soldaten des Ansässigkeitsstaates gegen die Bevölkerungsminderheiten vor. Darüber hinaus wurden hunderttausende Zivilisten aus den Front- und Etappenbereichen ins Hinterland zwangsdeportiert: Zum einen, weil da man sie als unzuverlässige „innere Feinde“ betrachtete, zu anderen um sie als Zwangsarbeiter auszubeuten.

  • Objekt

    Mangel und Elend

    Als im Jänner 1915 die Bevölkerung auf ausbleibende Brot- und Mehllieferungen mit Panikkäufen reagierte, führte die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt das Bezugskartensystem ein. Pro-Kopf-Quoten wurden festgesetzt und über Brot- und Mehlkarten verteilt. Doch selbst die zugewiesenen Rationen konnten angesichts der Krise immer seltener ausgegeben werden und die Papierscheine erwiesen sich als wertlos.

  • Entwicklung

    Alltag an der (Heimat) Front

    Wie gestaltete sich der Alltag in der Heimat und an den Fronten während der Jahre 1914 bis 1918? Lässt sich der Alltag einer bürgerlichen Frau mit jenem einer Arbeiterin vergleichen? Machte ein Offizier dieselben Fronterfahrungen wie ein Mannschaftssoldat? Oder müssen wir nicht eher davon ausgehen, dass wir es mit einer immensen Fülle an Einzelerlebnissen und -erfahrungen zu tun haben, die den Kriegsalltag der Bevölkerung und der Soldaten an den Fronten prägten?

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Geschlechterrollen: (k)ein Wandel?

    Dass der Erste Weltkrieg traditionelle Geschlechterrollen von Frauen und Männern ins Wanken brachte, ist eine weitverbreitete Ansicht. Fotografien von Straßenbahnschaffnerinnen, Fuhrwerkerinnen und Briefträgerinnen zeugen dem Anschein nach ebenso davon wie die durch den Krieg erzwungene und notwendige Übernahme der männlich gedachten Rolle des Ernährers und Versorgers durch die daheim gebliebenen Frauen. Aber gab es diesen Wandel tatsächlich und was blieb nach 1918 davon übrig?