Vom Königgrätzer Lorenz-Gewehr zur Ordonnanz-Waffe M1895
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Soldaten der k. k. Armee mit manufakturell hergestellten Vorderlader-Gewehren ausgerüstet. Trotz ihrer ballistischen Vorzüge hatten diese Gewehre gegenüber den neu entwickelten Hinterladern einen entscheidenden Nachteil: Zum Nachladen mussten sich die Soldaten aus ihrer Deckung erheben.
Die Schlacht bei Königgrätz (1866) führte den Habsburgern schmerzlich vor Augen, dass man Preußen nicht nur organisatorisch, sondern auch technisch unterlegen war. Hier zeigte sich, dass die preußischen Hinterlader-Gewehre den österreichischen Vorderladern – wenn schon nicht ballistisch, so doch taktisch – weit überlegen waren. Die im Gegensatz zu den Hinterladern erheblich höhere Reichweite der österreichischen Vorderlader war in dieser Schlacht insofern obsolet, als die Preußen konstant in Deckung verharren konnten. Während die Österreicher ihre Vorderlader weiterhin in aufrechter oder zumindest knieender Position wiederbeladen mussten – und dabei vortreffliche Ziele abgaben –, konnten die preußischen Füsiliere mit ihren Zündnadelgewehren in liegender Position den nächsten Schuss vorbereiten. Das Nachladen der neuen Gewehre ging zudem schneller vor sich, was eine höhere Schussfolge erlaubte. Das von Johann Nikolaus von Dreyse (1787-1867) entwickelte und seit den späten 1840er Jahren in der preußischen Armee eingeführte Zündnadelgewehr hatte folglich auch bedeutende Auswirkung auf die militärische Taktik. Hierzu schreibt der Militärhistoriker Fritz H. Baer: „Die Einführung von Hinterladern […] setzte eine Entwicklung in Gang, die zu einem grundlegenden Wandel des Kriegsbildes führen sollte. […] Die Zeit der Stoßtaktik mit Bajonettangriffen war, wie die Kriegshandlungen von 1866 mit für die k. k. Armee fatalen Folgen gezeigt hatten, ebenso zu Ende gegangen wie die der Vorderladewaffen.“
Hinsichtlich der Entwicklung und der Produktion von Handfeuerwaffen war Königgrätz für die Habsburgermonarchie von doppelter Konsequenz: Einerseits sollten die Vorderlader ehest möglich durch Hinterlader ersetzt werden, andererseits musste die seit Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht (1868) enorm vergrößerte Armee mit derartigen Waffen ausgestattet werden.
Bereits im Sommer 1866 entschied sich eine eigens gegründete Kommission dazu, die bisher in Gebrauch stehenden Vorderlader Lorenz-Gewehre mit Perkussionszündung zu Hinterladern umzurüsten. Die Kommission einigte sich auf die vom Wiener Büchsenmacher Karl Wänzel vorgestellte Umbauvariante. Diese Adaption blieb jedoch kurzzeitiges Provisorium. Bereits 1867 entschied sich die Kommission für das Konzept der beiden Waffeningenieure Karel Holub (1830-1903) und Josef Werndl (1831-1889). Dieses Konzept war in zweierlei Hinsicht hoch innovativ: Die Kombination vom neu entwickelten Tabernakelverschluss und dem industriellen Fertigungsverfahren führte dazu, dass die „Oesterreichische Waffenfabriks-Gesellschaft“ (OeWG) in Steyr in der Lage war, äußerst präzise, zuverlässige und in der Herstellung relativ günstige Gewehre zu produzieren. Das seit 1867 als M1867 produzierte Gewehr war auch in ökonomischer Hinsicht ein großer Erfolg, der dazu führte, dass die OeWG in den folgenden Jahren zu einem der größten europäischen Produzenten für Handfeuerwaffen aufstieg. Die Modellvarianten des in der Folgezeit noch mehrfach modifizierten und verbesserten M1867 bildeten für die nächsten Jahre das Standardgewehr der k. u. k. Landstreitkräfte.
Die nächste bedeutende Entwicklungsstufe bildete das von Ferdinand von Mannlicher (1848-1904) konstruierte M.1885. Bei diesem Gewehr handelte es sich um ein Mehrlader Repetiergewehr. Durch das im Mittelschaft eingebaute Magazin musste nicht nach jedem Schuss eine neue Patrone eingebracht werden, sondern man konnte mehrfach schießen, bevor das Magazin wiederbefüllt werden musste. Das Gewehr wurde ebenfalls in Steyr sowie in der Zweigstelle Budapest hergestellt und 1886 in der k. u. k. Armee eingeführt. Auch auf Basis dieses Gewehrmodells entstanden in den folgenden Jahren mehrfach modifizierte und in ihrer Leistungsfähigkeit verbesserte Varianten. Den vorläufigen Endpunkt bildete dabei das Steyr-Mannlicher-Modell M.1895, welches bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs etwa 3 Millionen Mal hergestellt wurde. Es galt aufgrund seiner Zuverlässigkeit, Präzision und hohen Schusskadenz als ausgezeichnete Waffe und bildete gemeinsam mit den Vorgängermodellen M.1888 und M.1890 das Standardgewehr der österreichisch-ungarischen Landstreitkräfte während des Ersten Weltkriegs. Die angedachte Weiterentwicklung zum M.1915 war kriegsbedingt nicht mehr durchführbar.
Baer, H. Fritz: Die Erzeugung der Handfeuerwaffen in Österreich im 19. Jahrhundert am Beispiel der Firma Werndl in Steyr, in: Foerster, Roland G./Walle, Heinrich (Hrsg.): Militär und Technik. Wechselbeziehungen zu Staat, Gesellschaft und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, Herford 1992, 123-160
Bowen, Hannah (Red.): Militärgeschichte. Waffen und Kriegsführung von der Antike bis heute, München 2013
Ortner, M. Christian: Die k. u. k. Armee und ihr letzter Krieg, Wien 2013
Willmott, P. Hedley: Der Erste Weltkrieg, München 2009
Zitate:
"Die Einführung von Hinterladern...": Baer, H. Fritz: Die Erzeugung der Handfeuerwaffen in Österreich im 19. Jahrhundert am Beispiel der Firma Werndl in Steyr, in: Foerster, Roland G./Walle, Heinrich (Hrsg.): Militär und Technik. Wechselbeziehungen zu Staat, Gesellschaft und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, Herford 1992, 131
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Kapitel
- Brisante Entdeckungen. Vom Schwarzpulver zu TNT
- Vom Königgrätzer Lorenz-Gewehr zur Ordonnanz-Waffe M1895
- Artillerie I.: Technische Innovationen und späte Modernisierung
- Artillerie II.: Die Feuerwalze, das Trommel- und Sperrfeuer
- Die hohe Kadenz des Maschinengewehrs: Von Mitrailleuse, Gatling-Gun, Maxim und Schwarzlose
- Eine wirkungsvolle Ergänzung: Handgranaten und Minenwerfer
- Die Rüstungsindustrie Österreich-Ungarns