„Dass dieser Krieg nie enden möge!“
„Glutheiß war es auf dem Balkon. Trotzdem derselbe auf der Schattenseite lag, fühlte man die sengende Hitze, mit der die Augustsonne die Straßen Berlins einheizte.“ So leitet Else Ury ihren Band Nesthäkchen im Weltkrieg ein, und wir, die LeserInnen, werden eingefangen und mitgenommen: Auf ins Abenteuer Weltkrieg!
Die Berlinerin Else Ury war als Autorin von Mädchenliteratur am deutschen Markt schon etabliert, als sie 1913 den ersten Band von Nesthäkchen publizierte. Ury schildert in insgesamt zehn Bänden das Leben von Annemarie, der jüngsten Tochter einer gut situierten Arztfamilie. 1916 erschien Nesthäkchen und der Weltkrieg.
Annemarie kehrt nach einem langen Aufenthalt in einem Kinderheim zurück nach Berlin, wo der vormals heile Alltag ihrer Familie durch den Kriegsausbruch empfindlich gestört ist. Die Eltern sind abwesend – der Vater als Arzt an der Front, die Mutter irgendwo in England verschollen – und Nesthäkchen sinniert mit ihrer Großmutter an jenem heißen Augusttag, mit dem die Geschichte beginnt, über die Beschwerlichkeiten des Kriegs: „Wenn ich groß wäre, würde ich bestimmt auch Opfer für das Vaterland bringen. (...) Dann würde ich Schwester werden und die Verwundeten pflegen wie Tante Lenchen. (...) Mit ihm (Vati) wäre ich zusammen in den Krieg gezogen – au, fein wäre das!“
Nesthäkchens Einsatzbereitschaft „in dieser gewaltigen Zeit der Erhebung Deutschlands“ zeigt sich denn auch im Stricken für die „Feldgrauen“, obwohl sie bedauert, nicht ein Junge zu sein, denn „dann könnte ich ganz anders helfen als hier bloß bei der dummen Strickerei“. Doch Nesthäkchen lernt Opfer zu bringen, sie reift schnell zur guten Patriotin, identifiziert mögliche Vaterlandsfeinde wie die polnische Vera in ihrer Klasse, straft diese mit Missachtung. Doch als bekannt wird, dass Veras Vater auf deutscher Seite den Heldentod gestorben ist, schämt sich Annemarie gebührlich. Sie betätigt sich als Sprachpuristin – wer ein Fremdwort benützt, hat fünf Pfennige in eine Kasse zu zahlen, schließlich könne man „eingespunnt“ statt „interniert“ verwenden – und empört sich über die „Gemeinheiten“ der Kriegsfeinde, die die „deutschen Frauen und Kinder aushungern“ wollen.
Als der Vater auf Kurzurlaub von der Front heimkehrt, zerrt sie diesen in ihre Klasse, denn die „Schulkinder sollten ihren Vater, auf den sie so stolz war, mit seinem Eisernen Kreuz sehen“. Ury beschließt den Band mitten im Krieg mit einem Happy End, nämlich mit der überraschenden Heimkehr der Mutter und den überaus optimistischen Worten: „Auch mancher von euch hat der Weltkrieg wohl, gleich unserm Nesthäkchen, Opfer auferlegt, kleinere oder größere. Aber ich bin davon durchdrungen, dass auch ihr sie freudig fürs Vaterland auf euch genommen habt. Wenn das schwere Ringen zu Ende und ein siegreicher Frieden unserer teuren Heimat beschieden ist, dann erzähle ich euch, was aus Doktors Nesthäkchen wurde.“
1920 erschien der nächste Nesthäkchen-Band, vom weiteren Kriegsverlauf und der Niederlage Deutschlands war allerdings nicht mehr die Rede. Else Urys patriotische Gesinnung erfuhr im Nationalsozialismus keine Würdigung, als Jüdin wurde sie 1943 in Auschwitz ermordet. Die Nesthäkchen-Bände wurden seither immer wieder in überarbeiteter Form neu aufgelegt. Nur der Weltkriegsband fiel wegen seiner chauvinistischen Inhalte der Zensur der Alliierten zum Opfer und wurde bis heute nicht mehr nachgedruckt. Kurios anmutende Ausnahme: In den USA kam 2006 eine Übersetzung auf den Markt, Nesthäkchen And The World War.
Stephan, Friedrich: Nesthäkchen im Weltkrieg. Das Kinderbuch erklärt den Krieg, Geschichte Politik und ihre Didaktik 24, Heft 3/4, Paderborn 1996, 222-231.
Daraus Zusammenfassung: Stephan, Friedrich: Das Kinderbuch erklärt den Krieg – Nesthäkchen im [Ersten] Weltkrieg, 2001. Unter: http://www.ajum.de/html/j-j/pdf/0305_wk1.pdf (19.06.2014)
Ury, Else: Nesthäkchen und der Weltkrieg, Berlin 1916.
Ury, Else: Nesthäkchen and the World War: First English Translation of the German Children's Classic, New York 2006.
Zitate:
Ury, Else: Nesthäkchen und der Weltkrieg. Unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/7646/1 (19.06.2014)