Österreichisches Bundesland oder Schweizer Kanton?

Die Anschlussbewegung in Vorarlberg

Als die provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs am 12. November 1918 die Republik proklamierte, waren die Grenzen des neu gegründeten Staates noch nicht gewiss.


 

Die politische Neuordnung Europas sollte, so forderte es der amerikanische Präsident Woodrow Wilson in seinem 14-Punkte-Programm, auf der Grundlage des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker erfolgen. In Anlehnung an diese Forderung erklärte die Provisorische Landesversammlung Vorarlbergs bereits am 3. November 1918 die Selbstständigkeit des Landes und seine Zugehörigkeit zum deutschösterreichischen Staat.

Daneben entwickelte sich eine breite Bürgerinitiative, die den Anschluss des Landes an die Schweiz verlangte. An ihrer Spitze stand der aus Lustenau stammende Ferdinand Riedmann, der am 13. November 1918 einen landesweiten Werbeausschuss für den Anschluss an die Schweiz gründete. Am 1. März folgenden Jahres legte Riedmann dem Landesrat eine Unterschriftenliste vor, aus der abzuleiten war, dass 70 % der stimmberechtigten BürgerInnen seine Initiative unterstützen würden.

Am 15. März 1919 erklärte die Provisorische Landesversammlung Vorarlbergs, dass die Zugehörigkeit zu Deutschösterreich nur als provisorisch zu verstehen sei und ein Volksentscheid über den Anschluss an einen größeren Staat – neben der Schweiz waren Bayern und Württemberg mögliche Optionen – entscheiden solle. Landeshauptmann Otto Ender äußerte sich dazu folgendermaßen: „Ich meine, wenn wir die geographische Lage besehen, das liegt auf der Hand, dass wir offen sind nach der Schweiz, nicht geschlossen nach Deutschland, dagegen von Deutschösterreich durch Berge sehr geschieden.“

Bei der für 11. Mai 1919 anberaumten Volksabstimmung zu der Frage, ob Vorarlberg mit der Schweiz über einen möglichen Beitritt verhandeln solle, stimmten 80 % der WählerInnen für die Aufnahme von Verhandlungen. Nur in Bludenz, Bolgendach und Hittisau sprach sich die Mehrheit gegen solche Gespräche aus. Die katastrophale Wirtschaftslage und die Hoffnung auf Besserung durch einen Zusammenschluss mit der Schweiz dürften für den großen Zuspruch ausschlaggebend gewesen sein.

Als Gegner der Schweizer Anschlussbestrebungen erwiesen sich die Deutschfreiheitlichen, die Großdeutsche Partei sowie die VertreterInnen der Textilindustrie, die sich für einen Beitritt zu Deutschland bzw. für die Errichtung eines Schwabenstaates (mit Württemberg) einsetzten. Der im April 1919 gegründete Verein Vorarlberger Schwabenkapitel wurde zum Sprachrohr ihrer gemeinsamen Anliegen, die mehrheitliche Unterstützung durch die Bevölkerung blieb jedoch aus.

Weder die Anschlussbestrebungen an die Schweiz noch das Schwabenkapitel konnten jedoch realpolitische Erfolge erzielen, da die Entscheidungsmacht über die zukünftigen Grenzen Deutschösterreichs ohnehin bei der Pariser Friedenskonferenz lag. Obwohl sich der Vorarlberger Landeshauptmann Otto Ender unter den österreichischen Delegierten befand, wurde die Vorarlbergfrage in Paris nur nebenbei behandelt. Ender verfügte de facto über keinerlei Verhandlungsmacht, Staatskanzler Karl Renner wollte einen Verlust des Landes verhindern, die Schweiz verzichtete darauf, den Anschlusswunsch Vorarlbergs bei den Friedensverhandlungen vor den alliierten Mächten zu vertreten und auch die Franzosen, die anfangs Zustimmungsbereitschaft signalisierten, sprachen sich letztendlich gegen die Vorarlberger Anschlussbestrebungen aus.

Im am 10. September 1919 von Staatskanzler Karl Renner unterzeichneten Vertrag von Saint-Germain war für die Vorarlberger keine Volksabstimmung vorgesehen, das Land sollte bei Österreich bleiben. Auch die weiteren Bemühungen seitens der VorarlbergerInnen, die Zustimmung des Völkerbundes für einen Zusammenschluss mit der Schweiz zu erwirken, blieben erfolglos.

 

Bibliografie 

Burmeister, Karl Heinz: Geschichte Vorarlbergs. Ein Überblick, 4. Auflage, München 1998

Goldinger, Walter/Binder, Dieter A.: Geschichte der Republik Österreich 1918-1938, München 1992

Graf, Stefan: Was blieb vom alten Österreich?, in: Natter, Tobias G. (Hrsg.): „Kanton Übrig“. Als Vorarlberg zur Schweiz gehören wollte, Bregenz 2008, 10-24

Häfele, Arnulf: Eine Landesverfassung als Eintrittskarte in die Eidgenossenschaft, in: Natter, Tobias G. (Hrsg.): „Kanton Übrig“. Als Vorarlberg zur Schweiz gehören wollte, Bregenz 2008, 36-43

Koch, Alexandra: Die Heimat ruft! Aber welche? Propagandistische Stilmittel nach dem 1. Weltkrieg in Österreich, in: Natter, Tobias G. (Hrsg.): „Kanton Übrig“. Als Vorarlberg zur Schweiz gehören wollte, Bregenz 2008, 54-64

Koller, Christian: „… der Wiener Judenstaat, von dem wir uns unter allen Umständen trennen wollen.“ Die Vorarlberger Anschlussbewegung an die Schweiz, in: Konrad, Helmut/Maderthaner, Wolfgang (Hrsg.): Das Werden der Ersten Republik … der Rest ist Österreich. Bd. I, Wien 2008, 83-102

Lang, Margarethe: Die Friedensverhandlungen in Paris und die Haltung der Alliierten, in: Natter, Tobias G. (Hrsg.): „Kanton Übrig“. Als Vorarlberg zur Schweiz gehören wollte, Bregenz 2008, 66-76

Pichler, Meinrad: Ferdinand Riedmann – Der Prophet vom gelobten Land Helvetia, in: Natter, Tobias G. (Hrsg.): „Kanton Übrig“. Als Vorarlberg zur Schweiz gehören wollte, Bregenz 2008, 44-52

Wanner, Gerhard: Vorarlberg, in: Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt (Hrsg.): Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik, Bd. 2, Graz/Wien/Köln 1983, 1011-1041

 

Zitate:

„Ich meine, wenn wir ...“: Stenographische Sitzungsberichte der provisorischen Vorarlberger Landesversammlung zu Bregenz. 14. Sitzung, 5, zitiert nach: Häfele, Arnulf: Eine Landesverfassung als Eintrittskarte in die Eidgenossenschaft, in: Natter, Tobias G. (Hrsg.): „Kanton Übrig“. Als Vorarlberg zur Schweiz gehören wollte, Bregenz 2008, 38

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    Nach dem Krieg

    Mit dem Ersten Weltkrieg ging das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende. An die Stelle der monarchischen Imperien traten neue politische Player. Die k. u. k. Monarchie zerfiel in einzelne Nationalstaaten. Im November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich proklamiert, im Oktober 1920 Österreich als Bundesstaat errichtet. Die Jahre nach dem Krieg waren überaus bewegt: Sie changierten in einem Spannungsverhältnis von Aufbruch und Niederlage, zwischen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften und Rückschlägen.