Österreich-Ungarn – eine europäische Großmacht?
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Österreich-Ungarn flächenmäßig nach Russland der zweitgrößte Staat Europas. Trotz seiner enormen Ausdehnung geriet das Reich der Habsburger aber im Vergleich zu den Großmächten Europas in vielen Belangen ins Hintertreffen.
Das Territorium der Habsburgermonarchie umfasste 676.615 km², auf dem eine Bevölkerung von 51,4 Millionen Menschen lebte. Interessant ist hier ein Vergleich mit den anderen Großmächten Europas: Das Deutsche Reich, der engste Verbündete Österreich-Ungarns, verfügte 1910 mit einer Ausdehnung von ca. 541.000 km² zwar über weniger Fläche, aber mit rund 66 Millionen über deutlich mehr Einwohner. Frankreich hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Fläche von ca. 537.000 km² mit einer Bevölkerung von 41 Millionen. Großbritannien bzw. das „Vereinigte Königreich und Irland“, wie der korrekte Name damals lautete, umfasste 315.000 km² mit 40,1 Millionen Menschen. Alle diese Staaten besaßen jedoch auch außereuropäische Kolonien von unterschiedlichem Ausmaß. Die größte Kolonialmacht war das Britische Empire, das 1901 ein Viertel der Landfläche der Erde unter seiner Kontrolle hatte. Ebenfalls von gigantischem Ausmaß war das Reich des russischen Zaren, der 1914 über ein Territorium von 22,500.000 km² mit einer Bevölkerung von ca. 163 Millionen herrschte.
Bei Ausbruch des Krieges ging man in der Habsburgermonarchie im Mobilisierungsfall von einer Kampfstärke von 1,8 Millionen Soldaten aus. Das Deutsche Reich konnte ein Heer von 2,4 Millionen Mann in Kriegsstand setzen. Aufseiten der Ententemächte verfügte Frankreich über eine Heeresstärke von 1,9 Millionen Mann und Großbritannien im Mutterland über 655.000 Mann sowie über weitere 322.000 Mann, die als Kolonialtruppen in Indien stationiert waren. Der russische Zar konnte sogar 3,4 Millionen Mann ins Feld schicken.
Was das ökonomische Standing der Habsburgermonarchie in Gesamteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrifft, so war das zentraleuropäische Reich der Habsburger nicht nur geographisch ein Übergangsgebiet zwischen West- und Osteuropa, sondern auch in Bezug auf das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung. Charakteristisch für diesen Teil des Kontinents war eine gewisse Verspätung im Prozess der Entstehung einer Industriegesellschaft. Die Industrialisierung erfasste das Reich im Vergleich zu Westeuropa mit einer Verspätung von zwei bis drei Jahrzehnten. Die Entwicklung war hier nicht vergleichbar mit der Weltmacht Großbritannien, die über ein transkontinentales Kolonialimperium verfügte. Auch war Österreich-Ungarn deutlich schwächer als Deutschland, das seinen neu erworbenen Status als führende Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent nun auch mit Ansprüchen auf ein entsprechendes politisches Gewicht verband. Am ehesten war das Reich der Habsburger auf wirtschaftlichem Gebiet vergleichbar mit Frankreich, das ebenfalls ein industriell-agrarisches Mischgebiet darstellte.
Dass die Landwirtschaft immer noch der dominierende Wirtschaftszweig des habsburgischen Gesamtstaates war, zeigt der hohe Anteil des Agrarsektors an der Wirtschaftsleistung. Zwischen 1850 bis 1910 sank dieser zwar von 67 % auf 53 %, blieb aber im Vergleich zu Deutschland, wo der Agrarsektor im gleichen Zeitraum von 56 % auf 35 % gesunken war, immer noch hoch. Der industrielle Sektor wuchs in der Habsburgermonarchie von 20 % auf 24 % – eine relativ geringe Steigerung im Vergleich zum Deutschen Reich, wo die Industrie ihren Anteil an der nationalen Wirtschaftsleistung von 24 % auf 40 % steigern konnte.
Bridge, Francis Roy: Österreich(-Ungarn) unter den Großmächten, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band VI: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, Wien 1989, Teilband 1, 196–373
Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert [Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u. a. 2013
Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005
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Kapitel
- Österreich-Ungarn – eine europäische Großmacht?
- Menschenmassen – Die Entwicklung der Bevölkerung
- Das Vielvölkerreich – Zwischen Gesamtstaatsidee und Nationalismus
- Die Vielfalt der Konfessionen
- Verschiedene Geschwindigkeiten: Die wirtschaftliche Entwicklung
- Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Alphabetisierung als Gradmesser der Entwicklung