Am Rande des Reiches: Galizien und Bukowina

Galizien und die Bukowina sind Territorien, die man heute vergeblich auf der Landkarte sucht. Aus dem zeitgenössischen Blickwinkel der Wiener Zentrale betrachtet, galten diese Länder als obskure Randgebiete: Als „Halbasien“ oder „Wilder Osten“ wurden sie als das „Armenhaus“ der Monarchie gesehen.

Galizien und die Bukowina lagen am Übergang zwischen der lateinisch-katholischen und byzantinisch-orthodoxen Welt. In geopolitischer Hinsicht war dieses Gebiet für die Habsburgermonarchie strategisch wichtig für den Konkurrenzkampf mit Russland um die Vorherrschaft im ostmitteleuropäischen Raum. Die europäische Großmachtpolitik hatte hier neue Grenzen geschaffen, die keine Rücksicht auf ethnische und sprachliche Verhältnisse nahmen und polnische, ukrainisch-ruthenische und rumänische Siedlungsgebiete zerrissen. Die Angehörigen derselben Sprachgruppe fanden sich nun auf beiden Seiten der Grenze zwischen einander nicht immer freundlich gesinnten Staaten wieder.

Das Königreich Galizien war eine künstlich geschaffene territoriale Einheit, das erst in der Folge der Polnischen Teilungen von 1772 und 1795 unter habsburgische Herrschaft gekommen war. Davor war das Gebiet ein integraler Bestandteil des polnischen Königtums und daher traditionell polnisch geprägt, obwohl das Land ethnisch gemischt war und neben Polen auch über einen hohen Anteil an ukrainisch-ruthenischer Bevölkerung verfügte.

Die Hauptstadt Galiziens war Lemberg (poln. Lwów bzw. ukrain. Львів/Lviv). Die alte polnische Königsstadt Krakau (poln. Kraków) stellte ein weiteres kulturelles Zentrum dar. Das Stadtbürgertum war größtenteils polnisch, daneben war auch ein deutscher und, vor allem in den östlichen Regionen, ein armenischer Einfluss spürbar. Eine besondere Rolle spielten in den galizischen Städten die zahlenmäßig sehr starken Judengemeinden. Zum mosaischen Glauben bekannten sich in Galizien ca. 11 % der Bevölkerung.

Nationale, ökonomische und konfessionelle Gegensätze hingen in Galizien besonders eng zusammen. Die Polen erhoben den Anspruch auf die Führungsrolle in diesem Gebiet. Die in vielerlei Hinsicht dominanten Polen sahen im lateinischen Katholizismus einen Kernpunkt ihrer nationalen Identität, während das Bekenntnis zur griechisch-katholischen Kirche (darunter versteht man eine mit Rom unierte Kirche, die bei Beibehaltung des orthodoxen Ritus den Papst als ihr Oberhaupt akzeptiert) die Zugehörigkeit zur ruthenisch-ukrainischen Volksgruppe definierte.

Es bestand ein starker Zusammenhang zwischen dem sozialen Status und der ethnisch-sprachlichen Zugehörigkeit. So bekannten sich die Angehörigen der sozialen Eliten zum Polentum, unabhängig vom tatsächlichen ethnischen Hintergrund. Die Dominanz der Magnaten und des zahlreichen polnischen oder polonisierten Landadels (szłachta) über die Massen der bäuerlichen Untertanen war drückend. Das dicht bevölkerte Land kämpfte mit einer Reihe von sozialen Problemen. Der Großteil des Bodens befand sich in den Händen des Feudaladels, während die ökonomische Situation der Klein- und Kleinstbauern in den Dörfern katastrophal war. Viele Besitzlose vegetierten überhaupt nur als Pächter oder Landarbeiter im Schatten der adeligen Großgüter dahin. Die ländliche Bevölkerung, die unter extremem Landhunger litt, blieb lange Zeit national indifferent, denn die Lösung sozialer Probleme war für viele Menschen ein brennenderes Problem als die Frage der nationalen Entfaltung.

Die Bukowina wurde 1775 von Österreich annektiert. Davor war dieses Gebiet ein peripherer Bestandteil des Osmanischen Reiches. In diesem extrem rückständigen und strukturschwachen Land führte die österreichische Administration das Experiment einer quasikolonialen Erschließung mittels einer zentralistischen Verwaltung mit Deutsch als Verwaltungs- und Unterrichtssprache durch. Da hier aufgrund der langen osmanischen Herrschaft kein lokaler Adel und keine ständische Selbstverwaltung existierte, musste keine Rücksicht auf historische Rechte genommen werden. Anfänglich bis 1786 unter Militärverwaltung stehend, wurde die Bukowina später zeitweise gemeinsam mit Galizien verwaltet.

Die Bevölkerung setzte sich aus Rumänen, Ukrainern, Deutschen und Polen sowie Armeniern zusammen, wobei keine Ethnie eine dominante Mehrheit ausbilden konnte. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung war mit ca. 13 % von allen Kronländern der Habsburgermonarchie der höchste.

Die Hauptstadt Czernowitz (ukrain. Чернівці/Černivci bzw. rumän. Cernăuţi) war ein Spiegelbild der bunten ethnischen Zusammensetzung des Landes. 1910 zählte die Stadt knapp 90.000 Einwohner, von denen 48,4 % Deutsch, 17,9 % Ruthenisch und 15,7 % Rumänisch als Umgangssprache angaben. In konfessioneller Hinsicht war der hohe Anteil der Juden (32,8 %) bemerkenswert. Ihnen war auch der erstaunlich hohe Prozentsatz der Deutschsprachigen zu verdanken, die das „Jerusalem am Pruth“ zu einem bedeutenden deutschen Kulturzentrum im Osten machten, das seit 1875 auch über eine deutschsprachige Universität verfügte. Das assimilierte jüdische Bürgertum orientierte sich kulturell nach Wien, was Czernowitz auch die Bezeichnung „Klein Wien“ eintrug. 

Bibliografie 

Batowski, Henryk: Die Polen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter  (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 522–554

Bihl, Wolfdieter: Die Ruthenen, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter  (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 555–584

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Polens. (3. Auflage), Stuttgart 1998

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Slawinski, Ilona/Strelka, Joseph P. (Hrsg): Die Bukowina. Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1995

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

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    Das Reich der Habsburger

    Österreich-Ungarn war ein äußerst vielfältiges Staatsgebilde. Eine ‚Bestandsaufnahme’ der Habsburgermonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeigt eine Großmacht im Niedergang. Soziale und politische Probleme sowie die alles überschattenden Nationalitätenstreitigkeiten rüttelten an den Fundamenten des Reiches. Jedoch stellte die Monarchie auch einen enorm lebendigen Kulturraum dar, dessen Vielfalt sich als befruchtend auf kulturellem Gebiet erwies, wo das Reich der Habsburger trotz der politischen Stagnation eine Blütezeit durchlebte.