Die Magyaren in der Habsburgermonarchie

Die Ungarn – oder im engeren ethnischen Sinn: Magyaren – sahen sich als Staatsnation des Königreiches Ungarn. Die Magyaren waren im Reich der Sankt Stephanskrone nicht nur die dominierende Sprachgruppe, sondern auch die zahlenmäßig größte Ethnie.

Mit 10,3 Millionen Menschen, die bei der Volkszählung 1910 Ungarisch als Muttersprache angegeben hatten, hielten sie mit 54,5 % der Gesamtbevölkerung Ungarns die knappe Mehrheit im Land. Im Rahmen der Gesamtmonarchie hatten die Magyaren einen Anteil von 20,2 % und stellten damit nach den Deutschsprachigen die zweitgrößte Sprachgruppe dar.

Zentralungarn galt als Kernland der Magyaren, während ihr Siedlungsgebiet gegen die Landesgrenzen hin stark ausdünnte. Aber auch in mehrheitlich anderssprachigen Gebieten lebte ein magyarischer Bevölkerungsanteil. Vor allem in den Städten fungierte eine ungarischsprachige soziale und ökonomische Elite als „Vorposten“ der Staatsnation. Eine besondere Stellung hatten die als ethnographische Sondergruppe der Magyaren geltenden Szekler, die getrennt vom eigentlichen magyarischen Siedlungsgebiet im äußersten Osten Siebenbürgens lebten.

Außerhalb des Kernlandes fand sich in der ungarischen Reichshälfte weiters eine magyarische Minderheit in Kroatien und Slawonien, wo sie trotz des geringen zahlenmäßigen Anteils von nur 4,1 % an der Bevölkerung weitreichende Vorrechte besaß. In der österreichischen Reichshälfte waren die Magyaren nur in der Bukowina als autochtone Volksgruppe ausgewiesen, wo sie auf einen Bevölkerungsanteil von 1,3 % kamen.

Aufgrund von neuzeitlicher Migration lebten Ungarn auch in anderen Kronländern Cisleithaniens, wo sie allerdings nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 als Staatsbürger Ungarns, unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund, als Ausländer galten. 1910 handelte es sich hier immerhin um rund 300.000 Menschen.

Die angegebenen Zahlen von 1910 bilden den Höhepunkt einer Entwicklung ab, die während des 19. Jahrhunderts die ethnische Zusammensetzung Ungarns grundlegend beeinflusste. Am Beginn der Nationswerdung hatten die ethnischen Magyaren die zahlenmäßige Mehrheit verloren, da weite Teile des nach den Türkenkriegen verwüsteten Landes mit Ansiedlern aus allen Teilen Zentral- und Südosteuropas „aufgefüllt“ wurden. Es entstand eine komplizierte Gemengelage, in der keine Ethnie die absolute Mehrheit erreichte.

Die ungarische Politik reagierte darauf mit einer offensiven bis aggressiven Vereinnahmung ursprünglich nicht-magyarischer Bevölkerungselemente in die ungarisch-magyarische Nation – ein Prozess, denn man als Magyarisierung bezeichnet.

Das Bekenntnis zum Magyarentum wurde zum Ticket für sozialen Aufstieg und zur Voraussetzung für die Teilhabe am politischen Leben, sodass viele Deutsche, Juden, Rumänen, Slowaken und Südslawen bereitwillig die Identität des magyarischen Staatsvolkes annahmen. Zwischen 1880 und 1914 „konvertierten“ rund zwei Millionen Menschen zum Magyarentum, und der Prozentanteil der Personen, die sich im Königreich Ungarn als Magyaren deklarierten, stieg von 45 auf 54 %.

Bibliografie 

Hanák, Péter: Die Geschichte Ungarns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Essen 1988

Hoensch, Jörg K.: Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984

Katus, László: Die Magyaren, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 410–488

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Tóth, István György (Hrsg.): Geschichte Ungarns, Budapest 2005

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    Das Reich der Habsburger

    Österreich-Ungarn war ein äußerst vielfältiges Staatsgebilde. Eine ‚Bestandsaufnahme’ der Habsburgermonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeigt eine Großmacht im Niedergang. Soziale und politische Probleme sowie die alles überschattenden Nationalitätenstreitigkeiten rüttelten an den Fundamenten des Reiches. Jedoch stellte die Monarchie auch einen enorm lebendigen Kulturraum dar, dessen Vielfalt sich als befruchtend auf kulturellem Gebiet erwies, wo das Reich der Habsburger trotz der politischen Stagnation eine Blütezeit durchlebte.