Spätes Erwachen: Die Entstehung der modernen slowakischen Nation

Der Prozess der slowakischen Nationswerdung war geprägt von den zahlreichen Schwierigkeiten dieser kleinen Volksgruppe, sich als „Newcomer“ unter den Nationalitäten Zentraleuropas zu behaupten.

Die Slowaken galten in der zeitgenössischen Geschichtsauffassung als „geschichtsloses Volk“, da sie über keine klassischen sozialen Eliten verfügten: Der Adel bekannte sich zum Ungarntum, die Stadtbürger der größeren urbanen Zentren wie Pressburg (slowak. Prešporek, ab 1919 Bratislava; ungar. Pozsony) oder Kaschau (slowak. Košice, ungar. Kassa) sprachen deutsch oder ungarisch.

Die Slowaken dominierten die Kleinstädte und Dörfer Oberungarns, worunter man die nordwestlichen Teile des Königreiches Ungarn verstand. Die Slowakei als eine eigenständige administrative Einheit im Rahmen des ungarischen Staates existierte nicht, und die slowakischen Siedlungsgebiete waren auf Regionen konzentriert, die seit Jahrhunderten als integrative Bestandteile des ungarischen Königreiches galten.

Aufgrund der zahlenmäßigen Schwäche – die Slowaken zählen zu den kleineren slawischen Ethnien Zentraleuropas –, aber auch bedingt durch die kleinbäuerliche Sozialstruktur in den größtenteils dörflich geprägten slowakischen Siedlungsgebieten kam es unter den Slowaken zu einem verzögerten „nationalen Erwachen“.

So hatte auch die Entwicklung einer slowakischen Schriftsprache verspätet eingesetzt. Lange Zeit wurde aufgrund der engen sprachlichen Verwandtschaft für den Schriftgebrauch das Tschechische verwendet. Zwar hatte am Ende des 18. Jahrhunderts der katholische Priester Antonín Bernolák (1762–1813) eine erste slowakische Schriftsprache auf Basis der westslowakischen Dialekte entwickelt. Diese wurde aber von der größtenteils protestantischen slowakischen Intelligenz abgelehnt, die sich aus evangelischen Pastoren des mittelslowakischen Berglandes zusammensetzte.

Die slowakische Standardsprache, die sich schließlich um 1850 durchsetzen sollte, wurde von Ľudovít Štúr (1815–1856) auf Basis der mittelslowakischen Dialekte kodifiziert. Allgemeine Verbreitung fand die neue Hochsprache durch die Tätigkeit des 1863 gegründeten nationalen Kulturvereins Matica Slovenská.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich die slowakische Emanzipationsbewegung auf die politische Durchsetzung der nun immer lauter werdenden Forderungen nach freier Entfaltung der sich vermehrt als eigenständige Nation fühlenden Slowaken. 1861 veröffentlichte die Slowakische Nationalpartei (Slovenská národná strana) als politisches Sprachrohr der Slowaken im Budapester Reichstag ihr Programm. Darin wurde eine Anerkennung des Slowakischen als gleichberechtigte Sprache in Verwaltung und Schulwesen sowie die Errichtung eines slowakisch dominierten Oberungarischen Kreises mit dem mittelslowakischen Neusohl (slowak. Banská Bystrica; ungar. Besztercebánya) als Hauptstadt. Das Fernziel war die Schaffung eines eigenständigen Kronlandes Slowakei, das aus Ungarn herausgelöst werden sollte. 

Bibliografie 

Holotík, L’udovít: Die Slowaken, in: Wandruszka, Adam/Urbanitsch, Peter (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band III: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 775–800

Křen, Jan: Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas], Praha 2005

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

Inhalte mit Bezug zu diesem Kapitel

Aspekt

  • Aspekt

    „Viribus unitis“ oder Völkerkerker?

    Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bildete einen mehr oder weniger stabilen Rahmen für die Koexistenz einer Vielzahl nationaler Gemeinschaften.

    Die viel beschworene „Einheit in der Vielfalt“ wurde in der Realität von zahlreichen Ungleichheiten überschattet. Dies zeigte sich vor allem im unterschiedlichen Ausmaß, in dem einzelne Sprachgruppen an der politischen und ökonomischen Macht beteiligt waren.

Entwicklungen

  • Entwicklung

    Der Weg zur Nation – Nationale Programme und Positionen

    Das ‚Werden der Nationen’ war in Europa Teil des Emanzipationsprozesses breiterer Bevölkerungsschichten aus feudaler Bevormundung. Gemäß den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution sollte die Nation – nun verstanden als Gemeinschaft freier Bürger – anstelle feudaler Potentaten die Rolle des eigentlichen Souveräns übernehmen.

    Die Idee der Nation wurde als Schicksalsgemeinschaft definiert, die durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Sprache verbunden war. Zur Stärkung des Gruppengefühls wurde eine verbindliche Sicht der Geschichte der eigenen Nation geschaffen.