Das Bündnis von Thron und Altar: Die katholische Kirche
Spätestens mit der Dezemberverfassung 1867 wurde die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit gesetzlich festgelegt. Die letzten Reste einer Benachteiligung von Angehörigen anderer Konfessionen waren beseitigt. Dennoch war der Katholizismus auch weiterhin de facto Staatsreligion.
Als „ärarischen Katholizismus“ bezeichnet man die enge Verflechtung der katholischen Kirche mit der österreichischen Staatsmacht. Zum Teil ist dies ein Erbe des josephinischen Staatskirchentums, als der kirchliche Apparat unter behördlicher Aufsicht zu einem Organ der Staatsmacht wurde. Im Zeitalter des Neoabsolutismus wurde die Kirche wieder als selbständige Kraft etabliert, der ein bedeutender Einfluss auf das Familienrecht und Schulwesen zugestanden wurde. Die Dynastie glaubte, mit einer gestärkten Kirche gegen Liberalismus und Nationalismus vorgehen zu können. Die Kirche verstand sich als supranationale, integrative Kraft, als Klammer und Gegenentwurf zu Nationalitätenstreit und Klassenkampf.
Die Symbiose der katholischen Kirche mit der habsburgischen Dynastie war historisch begründet, seit dem konfessionellen Zeitalter bestand ein unerschütterliches Bündnis zwischen Thron und Altar. Die Dynastie stellte sich in den Dienst der katholischen Sache, während die Kirche als Gegenleistung den monarchischen Gedanken in den sakralen Bereich transponierte.
Selbst die liberale Epoche ab den 1860er Jahren konnte die Vormachtstellung der Kirche nicht wirklich gefährden, sondern ihr höchstens äußerliche Fesseln auferlegen. So blieb etwa das katholische Bekenntnis weiterhin eine Voraussetzung für eine Karriere im Staatsdienst.
Die privilegierte Stellung der Kirche beruhte auf mehreren Faktoren: Zum einen waren der hohe Klerus und die Klöster dank des enormen Landbesitzes ökonomisch autark. Seit Jahrhunderten bildeten die kirchlichen Würdenträger eine Macht im Staat mit ausgeprägten Standesrechten. In den Landtagen waren Bischöfe und Äbte vertreten, die bedeutendsten katholischen Würdenträger verfügten über einen Sitz im Herrenhaus des Reichsrates.
Zum anderen verfügte die Kirche aber auch über einen bedeutenden gesellschaftlichen Einfluss. In Gestalt des Pfarrers besaß sie für die meisten Menschen eine starke Autorität und übte eine „Herrschaft über die Seelen“ aus. Religion war auch noch um 1900 vor allem am Land eine prägende Kraft und beeinflusste das Alltagsleben in einem deutlich stärkeren Ausmaß als heute. Die religiösen Rituale waren sinnstiftend und lebensbegleitend. Der christliche Glaube prägte das Leben der breiten Massen dank der engen Symbiose von Volksglauben und Brauchtum und gab auch dem Gemeinschaftsleben Struktur. Dies galt natürlich nicht nur für die katholische Kirche, sondern auch für die anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften, die in der Monarchie vertreten waren. Die Römische Kirche war aber im öffentlichen Leben am sichtbarsten, da sie eben den Status einer „Staatskirche“ hatte.
Auch die Kirche war mit den Umwälzungen in der Gesellschaft konfrontiert und musste neue Mittel und Wege für eine Anpassung an die Demokratisierung der Macht suchen. Die katholische Kirche übte über ein eigenes Presse- und Vereinswesen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. In der christlich-sozialen Partei fand sie ein Sprachrohr ihrer Anliegen und einen verlängerten Arm im Parlament. Die Kirche besaß weiterhin ein enormes Mobilisierungspotenzial, das auch zur Machtdemonstration eingesetzt wurde: Als Beispiel sei hier der XXIII. internationale eucharistische Kongress in Wien 1912 angeführt, der von beeindruckenden Massenkundgebungen begleitet war, die in einer 150.000 Teilnehmer zählenden Prozession entlang der Ringstraße samt Festgottesdienst am Heldenplatz gipfelten.
Der unverhohlene Machtanspruch der Kirche traf aber auch auf Widerspruch. Antiklerikalismus war Teil des Programms der liberalen wie der sozialistischen Bewegung. Auch viele nationalistische Gruppierungen wie die Deutschnationalen, aber auch die national-liberalen Parteien der Tschechen hefteten den Streitruf „Los von Rom“ auf ihre Fahnen. Trotz der Kritik an der Macht der Kirche blieben die Austrittszahlen jedoch relativ gering, wenn auch im urbanen Milieu die Zahl der Taufschein-Christen stark anstieg. Besonders sichtbar war dies bezeichnenderweise im vom deutsch-tschechischen Antagonismus zerrissenen Böhmen. Unter „böhmisch-katholisch“ verstand man hier die nur mehr äußerliche Befolgung katholischer Bräuche, die sich in eine Art folkloristischer Praxis gewandelt hatte.
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