Tagebuch mit retrospektiven Passagen aus der Hinterlassenschaft von Julie Söllner
Auszug aus den Tagebucheinträgen von Julie Söllner zur Situation in Wien nach Abflauen der ersten Kriegsbegeisterung, verfasst im März 1915 in Wien
von Limanowa, es kamen sichere und verbürgte Nachrichten, ein Heer von 125,000 Russen sei von uns gefangen worden, es kam die furchtbare Enttäuschung, die Übergabe von Lemberg. Man wurde müde, man sah, daß lange Zeit vergehen werde, ehe eine Entscheidung fallen könne. Man wurde ruhiger, ja man fing an sich an den Kriegszustand zu gewöhnen. Es kam die Zeit der fieberhaften Wohltätigkeitsgründungen. schwarz-gelbes Kreuz, Gold gab ich für Eisen, Kinderhorte, galizische Flüchtlingsheime Kälteschutz; jeder wollte und mußte geben soviel er konnte, für alles hatte man auf einmal Verwendung; die Frauen und Mädchen, die sich zu Hause für entbehrlich hielten, widmeten sich der Krankenpflege, der Kinderpflege und Erziehung in den Horten etc; ich habe von meinem Wenigen etwas hergegeben,
habe fleißig für unsere armen Soldaten gestrickt und bin zu Hause bei den Meinen geblieben, die ja doch das erste Anrecht an mich haben. Auch diese Bewegungen, Beschäftigungen, Zerstreuungen kamen in ruhigeres, geordnetes Fahrwasser; jeder gab gern, was er konnte. Bei den Deutschen trat nach dem rasenden Tempo der ersten Wochen auf der Westfront Stillstand, sogar Rückschlag ein, mühsam behaupten sie sich dort, auf den von ihnen eroberten Stellungen; im Osten aber haben sie Dank der genialen Führung Hindenburgs gegen die russische Überrmacht sehr viele Erfolge. Bei uns hoffte man bis Weihnachten mit Serbien fertig zu sein, die Aussichten waren gut, Potiorek der Führer der südlichen Armee wurde in den Himmel erhoben, da kam das Verhängnis er wollte zu schnell vorwärts, namenlose Unordnung entstand, alles mußte aufgegen werden und dazu ein Unzahl Soldaten als Kriegsgefangene zurückgelassen