Der Berliner Kongress und die Aufteilung des Balkans

Der Berliner Kongress 1878 war ein Schulbeispiel für die „Zwei-Klassen- Diplomatie“, die von der Überheblichkeit der Großmächte gegenüber den kleineren Nationen geprägt war, über deren Köpfe hinweg verhängnisvolle Entscheidungen getroffen wurden.

Das Ziel des diplomatischen Gipfeltreffens war die Neuordnung des Balkans. Neben dem Gastgeber Deutschland nahmen Österreich-Ungarn, Russland und Großbritannien teil. Das Osmanische Reich bekam bezeichnenderweise keine aktive Position, sondern hatte nur Beobachterstatus.

Deutschland, das keine unmittelbaren Interessen am Balkan hatte, übernahm unter der Führung Bismarcks nicht ganz uneigennützig die Vermittlerrolle. Das gemeinsame Interesse von Berlin, Wien und London lag im Bemühen, Russlands Einfluss am Balkan einzudämmen, was sich auch im Ergebnis zeigte: Dem Zaren wurden nur geringe territoriale Gewinne in Bessarabien zugestanden, was im krassen Gegensatz zur Bedeutung und militärischen Stärke Russlands in der Region stand.

In der Gestalt Bulgariens wurde ein eigenständiges Tributärfürstentum mit bloß symbolischer Abhängigkeit vom Osmanischen Reich geschaffen. Somit war Bulgarien, das außerdem die Anwartschaft auf das teilautonome Gebiet Ostrumelien zugestanden bekam, den russischen Okkupationsgelüsten entzogen.

Die Gewinner waren Rumänien, Serbien und Montenegro, die nun endgültig aus der osmanischen Oberherrschaft entlassen und unabhängige Staaten wurden. Da diese Staaten außerdem massive territoriale Zugewinne aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches zugesprochen bekamen, konnten sie für eine Unterstützung der Beschlüsse des Kongresses gewonnen werden.

Ein weiterer Gewinner war Österreich-Ungarn, dessen Ambitionen auf Bosnien und Herzegowina unterstützt wurden, wodurch Wien die Zustimmung zur militärischen Okkupation erreichen konnte. Die Machtübernahme geschah nicht kampflos, denn lokale Machthaber reagierten mit einem Partisanenkampf auf die militärische Besetzung. Ein weiteres territoriales Engagement Österreich-Ungarns in der Region war die Besetzung des Sandschaks Novi Pazar, ein Landstreifen, der Serbien von Montenegro trennte und die einzige Verbindung zwischen Bosnien-Herzegowina und dem Rest des europäischen Teils des Osmanischen Reiches darstellte. Dieses strategisch enorm wichtige Territorium wurde ebenfalls von der österreichischen Armee in Besitz genommen. Trotz der Anwesenheit österreichischer Truppen blieben Bosnien-Herzegowina und Novi Pazar staatsrechtlich weiterhin Bestandteile des Osmanischen Reiches und der Sultan offizielles Staatsoberhaupt, obwohl die Territorien von österreichisch-ungarischen Behörden verwaltet wurden.

Ein weiteres Ergebnis des Berliner Kongresses war, dass auf der außenpolitischen Ebene das Bündnis Österreich-Ungarns mit Deutschland vertieft wurde, da Wien auf einen starken Partner gegen Russland angewiesen war. Eine unmittelbare Folge war der Abschluss des Zweibundes zwischen Berlin und Wien (1879).

Für Österreich-Ungarn war der Berliner Kongress zwar auf den ersten Blick ein außenpolitischer Erfolg, der sich aber als innenpolitisches Desaster entpuppen sollte. Denn die Okkupation Bosnien-Herzegowinas verschärfte die Nationalitätenfrage, da die Verstärkung des südslawischen Elements das empfindliche Nationalitätenverhältnis verschob. Die bosnische Frage brachte letztlich in Österreich wie in Ungarn die etablierten liberalen Parteien zu Fall, die sich dem „Reichsgedanken“ verpflichtet sahen. Neue und radikalere nationale Parteien folgten nach: Die Vertreter der Deutschnationalen und der extremen Magyaren sahen in der Okkupation dieses ökonomisch rückständigen Gebietes ein Ergebnis einer rein dynastisch begründeten Profilierungssucht, die den eigenen nationalen Interessen widersprach. 

Bibliografie 

Buchmann, Bertrand Michael: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte, Wien 1999

Džaja, Srećko: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878–1918) (Südosteuropäische Arbeiten 93), München 1994

Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1999

Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie [Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von Herwig Wolfram], Wien 2005

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  • Entwicklung

    "Pulverfass Balkan"

    Der Niedergang des Osmanischen Reiches löste ein Machtvakuum aus, in das neue Kräfte stießen. Am Balkan entwickelte sich ein instabiles Wechselspiel zwischen den Interessen der Großmächte und den nationalen Programmen der erwachenden Völker in Südosteuropa.