Tagebuch mit retrospektiven Passagen aus der Hinterlassenschaft von Julie Söllner

Auszug aus den Tagebucheinträgen von Julie Söllner zur Situation in Wien nach Abflauen der ersten Kriegsbegeisterung, verfasst im März 1915 in Wien

[…]
Dann kamen wir nach Wien. Hier hatte sich die Hochflut der Begeisterung schon gelegt, man sah nicht mehr die frohe, siegessichere Jugend, die bereit war für das Vaterland zu sterben; die Aufzüge und Begeisterungskundgebungen waren am 5. August vorbei. Aber ein Treiben schüttelte die ganze Stadt, man konnte kaum

von einer Zeitung auf die andere warten, immer hoffte man, das bald eine erlösende, befreiende Nachricht kommen werde. Sie kam nicht. Man war nervös in rasendem Siegeslauf durcheilten die Deutschen Belgien und Nordfrankreich, ja und wir mußten die Russen aufhalten, damit die Dampfwalze sich nicht auf Berlin und Wien stürze. Jeder, der aus seinen vier Wänden heraustrat, wurde von dem allgemeinen Wirbel mitgerissen, die ersten Abende gingen wir in’s Caféhaus, um noch spät abends die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz zu hören, es war nervenaufreibend[?] und ich habe von einer mir bekannten Dame den Ausspruch gehört, „es ist herrlich, es ist spannend.“ Tagsüber nahm ich mir vor zu Hause zu bleiben, wenn aber dann am Abend die Extraausgaben ausgerufen wurden, wenn man dachte die Entscheidung müsse bald fallen, dann litt es mich auch nicht zu Hause, ich mußte hören, ich mußte sehen. Es kamen die Tage

  •  
  • 1 von 4